1922 ist ein Jahr voller Gewalt und Schwindel, politischem Terror und wirtschaftlicher Falschmünzerei, in Europa,
im Reich, in Bayern und dessen Hauptstadt München.
In Rußland richtet sich eine revolutionäre Minderheit als schwindeldemokratischer Sowjetstaat
ein, Mussolini zaubert in Italien seinen faschistischen Schwindelsozialismus hervor, in Frankreich schwindelt sich
Poincaré mit deutschfresserischen Kraftsprüchen an die Regierung. Die Schwindelwährung Reichsmark taumelt in
schwindelnde Kursabgründe, im Ruhrgebiet rechtfertigt Frankreich mit Schwindelgründen die ersten Faustpfänder, die
Versailler Friedensschwindler vergiften seit drei Jahren das Klima mit dem Schwindelstigma von Deutschlands
Alleinschuld am Krieg, und die Schwindelvokabeln Dolchstoß, Novemberverbrecher und Erfüllungspolitiker narren die
Hirne in Deutschland. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Hunger und seelisches Elend sind der Nährboden, auf dem
Schiebertum und Gewalttätigkeit blühen. In München entsteht das hybride Schwindelwort von der "Ordnungszelle Bayern".
Die republikanisch ettiketierte bayerische Staatsregierung ruckt staatsreichähnlich mit Hilfe antidemokratischer
Kampfbünde und außerparlamentarischer Aktivistengruppen in Richtung einer Rechtsdiktatur mit Verfassungstünche,
honorige Kirchenpotentaten wie Kardinal Faulhaber und der päpstliche Nuntius Pacelli sympathisieren offen mit dem
Schwindeltraum einer erneuerten Monarchie, wenigstens für Bayern. Fememorde durch schwindelpatriotische Geheimbünde
finden im Reich wie in Bayern eine geneigte Justiz, Attentate auf mutige Publizisten (Harden) und mißbeliebige
Politiker (Rathenau) bleiben fast ungeahndet. Saal- und Straßenschlachten politischer Kampfverbände sind ebenso
an der Tagesordnung wie große und kleine Wirtschaftskriminalität. Das Gespür für Anstand, Lauterkeit, Wahrheit
scheint verloren, die falsche Münze beherrscht jeden Markt, im Reich, in Bayern, in München. Die Liberalitas
Bavariae liegt im Sterben, schwarz-braune Wolken verdunkeln den weiß-blauen Himmel, das München von 1922 leuchtet
nicht mehr, als im "Weltbücherverlag" in der Schellingstraße unter dem Pseudo-Pseudonym
Ewger Seeliger Menschheit
das
Handbuch des Schwindels erscheint. Es findet in kurzer Zeit starken Absatz und wird nach wenigen Wochen
vom Staatsanwalt beschlagnahmt und verboten. Damit beginnt die Tragikomödie eines Buches, wie sie dessen Urheber
E.G.Seeliger mehr als zehn Jahre zuvor erdacht und geplant und nunmehr inszeniert hat.
Wer ist dieser messianische Friedenshetzer und Entschwindelungskünstler, dieser Erzanstiftling
zum Weltfrieden durch Humor,
Ewger Seeliger, der sich so selbstbewußt
Menschheit nennt und den
Leser des
Handbuch des Schwindels mit dem Verleitspruch empfängt: "Wer nicht mit mir ist, der ist wider sich"?
Ewald Gerhard Hartmann Seeliger, geboren am 11. Oktober 1877 im schlesischen Rathaus bei Brieg, wuchs in einem
liberalen Elternhaus auf und wurde früh zu freiheitlichem und eigenständigem Denken und Handeln erzogen. Sein Vater,
ein goethevernarrter, kosmopolitisch denkender, bienenzüchtender Hauptlehrer, vererbte ihm eine starke Abneigung
gegen jeden Obrigkeitsglauben. Erfahrungseifer und Phantasie dagegen wurden mit gleicher Sorgfalt gefördert wie
die Liebe zur Natur und zum kreativen Umgang mit der Sprache. Einer augenzwinkernd mitgeteilten Familientradition
zufolge sollte der junge Seeliger zwei Väter haben: den "keimplasmatischen Erzeuger" Gustav Seeliger aus Stroppau
an der Oder, wo nach lokaler Überlieferung die Erdachse geschmiert wird, und den "pneumatologischen Hur-Urgroßvater"
Goethe, der im Jahre 1790 den Grund für diesen seeligerschen Familienzweig in einem "chromosomatischen Abenteuer"
mit der Wirtsnichte Rebekka Kuhlmann aus Zirlau in Schlesien gelegt haben soll. Mit solch vielfältigen
Entwicklungskeimen ausgestattet, strebte der junge Seeliger beruflich dem Vater nach, besuchte Bürgerschule,
Präparandenanstalt und Volksschullehrerseminar und verdiente sich ab 1897 erste pädagogische Sporen in
mittelschlesischen Dörfern als Lehrerstellvertreter und Lehrer. Erfahrungen und Erlebnisse aus diesen "Lehr"-Jahren
liegen manchen seiner Romane und Erzählungen zugrunde
(Der Stürmer; Das Winkelbergsche Herz). Seeliger war
viel unterwegs, mit dem Fahrrad in der schlesischen Heimat, und später mit der Eisenbahn und per Schiff in der
ganzen Welt. Der Sinnenmensch und genaue Beobachter reiste und rezipierte seine Umgebung gemäß seinem Lebensmotto:
Dichtung ist Leben, Leben ist Dichtung. Er brauchte wenig zu "erfinden", er hatte Menschen und Dinge, die er beschrieb,
"geschaut" und "erfahren".
1899 erhielt der welthungrige Schulmeister auf eigene Bewerbung eine Anstellung an der Deutschen
Schule in Genua. Dort begann er, Erzählungen zu schreiben
(Aus der Schule geplaudert; An der Riviera; Leute vom Lande).
1900 berief ihn die Stadt Hamburg als Lehrer, er heiratete 1901 die Hamburger Kaufmannstochter Rosalie Sara Kohn
und widmete 1902 seinem "eingeborenen Sohn" ein originelles Kinderbuch. Neben seiner Lehrtätigkeit schrieb er
Gedichte, Erzählungen, Komödien und Romane
(Nord-Nordwest; Riffe der Liebe) und wurde bald zu einer bekannten
und anerkannten Figur im literarischen Leben Hamburgs. 1906 verlieh ihm der Hamburger Senat für sein Buch
Hamburg - ein Buch Balladen die Goldmedaille des Großen Ritzebütteler Portugalösers, 1907 folgte der erste
Preis unter 3000 Einsendungen beim Preisausschreiben der Scherlschen "Woche" für die Ballade
Der Gonger.
Preisgelder und Honorare aus den steigenden Auflagen seiner Bücher übertrafen bald sein Lehrergehalt, und das
erzählerisch bearbeitete Tagebuch seines seefahrenden Bruders Paul (
Mandus Frixens erste Reise, auch:
Bark Fortuna) war sein erster großer Publikumserfolg. Er nahm um die Jahreswende 1906/07 ein
Disziplinarverfahren der Hamburger Oberschulbehörde gegen ihn zum willkommenen Anlaß, das Lehramt niederzulegen.
Wir haben Veranlassung, die Gründe für das Verfahren in Seeligers eigenwilliger Auffassung vom Verhältnis
Individuum/Staat zu suchen. Vielleicht trug seine spitze Feder dazu bei, denn als "Bruder Mores" hatte er,
ähnlich wie Ludwig Thoma im Simplizissimus, bürokratische Exzesse satirisch aufgespießt und der Lächerlichkeit
überliefert. Und war ein beamteter Lehrer tragbar, der in seinem Romanerstling einen Dorfschullehrer als sympathisch
gezeichnete Hauptfigur ein volles Tintenfaß gegen den inspizierenden Schulrat schleudern läßt wie weiland
Luther gegen den Teufel? Mußte nicht auch der Roman
Der Schrecken der Völker (1905) aus der Feder eines
Staatsdieners in der Zeit der imperialistischen Großmannsucht und des nationalistisch geheiligten Wettrüstens
ein Skandalon von Rang sein? Seeliger ließ schon damals eine Wasserstoffbombe konstruieren und mit ihr alle
Kriegsflotten der Welt auslöschen, zu Gedeih und Triumph des allgemeinen Weltfriedens! Hellsichtig sagte er das
Gleichgewicht des Schreckens voraus: "Je schrecklicher die Werkzeuge des Mordens werden, um so seltener wird man
sie anwenden... Nicht die Friedensschalmeien, nicht die steigenden Prozente der Handelshäuser, nur die lähmende
Furcht bändigt die Bestie." (
Der Schrecken der Völker, S. 52).
Was für ein Sakrileg für eine Zeit, in der die Flotte des Kaisers liebstes Kind war. 1908
erhielt er eine Geldstrafe wegen Beleidigung durch die Presse - der Querdenker, -schreiber und -treiber rieb sich
mit Vorbedacht an den kleinen und großen Exponenten der Macht; kein Wunder, wenn die Funken stoben.
Der vielseitige, nun freie Schriftsteller Seeliger zog seine Vornamen selbstironisch zum
programmatischen Ewger zusammen und tummelte sich im weiten Feld der literarischen Formen und experimentierte
erfolgreich in fast allen Gattungen. Der Kreis seiner Freunde und Bekannten wuchs ebenso wie die Vielfalt seiner
Publikationen. Seeliger wurde Modeautor und Bestsellerproduzent. Der in späterer Zeit zu traurigem Ruhm gelangte
Adolf Barthels bescheinigte ihm 1918: "Man sieht, er kann eigentlich alles." Seine Popularität bewog seinen
Blankneser Nachbarn und Freund Richard Dehmel zu dem Bekenntnis:
Ich wäre gern so populär
wie mein Nachbar Seeliger.
Doch weils nicht kann sein,
soll er sich freun.
Zum engeren Bekanntenkreis gehörten Liliencron und sein Literatenzirkel, Otto Ernst, Fritz Mauthner und besonders
Richard Dehmel; Beziehungen bestanden zu Maximilian Harden, Emil Ludwig, Hermann Stehr, Walter Rathenau, Felix
Hollaender und dem "Klüngel der Berliner Literaturdemiurgen" um die Brüder Hart. Aus der engen Freundschaft mit
Dehmel erwuchs schon in den Vorkriegsjahren die Konzeption für das
Handbuch des Schwindels.
In schneller Folge erschienen Romane, Novellen
(Das schlesische Werk; Buntes Blut),
Erzählungen, Singspieltexte, Komödien
(Die 5 Komödien des Marquardt van Vryndt), zeitkritische Gedichte und
sogar Opernlibretti. Er schrieb vieles, was nur Tagesbedeutung hatte, folgte Verlegerwünschen nach Erfolgsbüchern
und traf oft nur zu gut den Publikumsgeschmack auf Kosten literarischer Sorgfalt und künstlerischer Ökonomie. Was
er mitunter schrieb, war Lesefutter und gilt heute als Trivialliteratur. Die zeitgenössische Kritik aber maß ihn
an seinen besten Texten und stufte ihn erstaunlich hoch ein im literarischen Leben zwischen 1900 und 1930. Vieles
an Seeligers Büchern aus dieser Zeit ist hoffnungslos zeitgebunden, im Sujet veraltet und sprachlich vom Zeitgeschmack
überholt. Die Atmosphäre von Vorkriegs- und Kriegszeit hat wohl Unbedachtes einfließen lassen, doch wer seine
zwischen 1905 und 1923 erschienenen Romane aufmerksam liest, wird bemerken, daß bei den grimmigen Ausfällen
gegen Frankreich, England und Japan nicht ein kruder Hurra-Patriotismus die Feder führt, sondern der Zorn gegen
die "hochmögenden Gewaltschwindelzauberer", die ihre Völker in Größenwahn und Kriegshysterie hetzen. Nicht den
Haudegen, sondern den Besonnenen gilt selbst in den Kriegsbüchern seine Sympathie, und in Handlungen und Charakteren
ist immer der Ruf nach dem Weltfrieden vernehmbar; wie ein roter Faden durchzieht die utopisch-humane Fiktion vom
"Frieden durch Humor" alle seine Bücher.
Seeliger wollte seine Ideen von Humanität und Freiheit und von der messianischen Kraft des
Humors an breite Leserschichten herantragen; das erforderte Zugeständnisse in Sprache und stofflichem Detail. Der
große literarische Gestus mag seinen Büchern vielfach abgehen, nie jedoch fehlt der Gedanke der Gewaltfreiheit,
ein Gedanke, der heute vornehmlich jungen Menschen am Herzen liegt und für den viele durch die denkfaule Gesellschaft
in Außenseiterrollen gezwungen werden als Miesmacher, Verhinderer und Aussteiger, als Utopisten und Staatsverneiner.
Diese Rolle hat Seeliger in den 20er und 30er Jahren bewußt und konsequent angenommen. Er verweigerte sich jedweder
"Horde", sofern sie Zwang ausübte, sie mochte sich Konfession oder Partei nennen, Nation, Rasse oder Klasse. 1902
schlug er ein Angebot, sich mit August Bebels Unterstützung in die Hamburger Bürgerschaft und für die SPD in den
Reichstag wählen zu lassen, mit dem Goethe-Satz aus: "Sowie ein Dichter politisch wirken will, muß er sich einer
Partei hingeben, und sowie er das tut, ist er als Poet verloren." Er verschrieb sich mit ganzem Herzen der Idee
von der Abschaffung der Gewalt, der Vision von der Beseitigung jeder organisierten und unorganisierten Zwangsmeierei.
In dem Roman
Die Zerstörung der Liebe (1923) läßt er die Hauptfigur Karl sagen: "Krieg und Revolution sind
ohne Waffe unmöglich, daher muß vor allem die Waffe verschwinden, und die schonungslose Verfemung des Mörders und
seines Lehrers muß unverlierbar dem Bewußtsein der Völker eingehämmert werden."
Bis ins erste Weltkriegsjahr hinein galt er als literarischer Publikumsliebling und Modeschriftsteller,
und in seiner (unveröffentlichten) Autobiographie
Messias Humor bekennt er sich offen dazu. Zwischen 1912
und den ersten Kriegsmonaten aber geschah die Wandlung Seeligers vom unterkühlt moralisierenden Bücherproduzenten
zum radikalen Pazifisten, engagierten Moralisten und visionären Zukunftsverdeutlicher. In einem eindringlichen
Gespräch warnte ihn der Vater vor der "goldenen Kette, mit der jedwelche Leserschaft den von ihr zum Lieblingsautor
erkorenen Dichter in Fesseln zu schlagen trachtet"; Begegnungen (u.a. mit Fritz Mauthner und Franz Oppenheimer)
und kritische Beobachtung der Zeitläufte rüttelten ihn auf. Die bevorstehende Einberufung durch Auswanderung zu
umgehen, lehnte er mit der Begründung ab: "Ich will mit dabei sein, damit ich später darüber aus eigener Anschauung
berichten kann"
(Messias Humor). Er beschloß jedoch, "nur als Friedensberichterstatter zu funktionieren".
Der kompromißlose "Arbeiter für die Utopie der Welteidgenossenschaft" war geboren, und der jahrzehntelange Kampf
für die Befreiung der Menschheit von Gewalt und Schwindel begann. Seeliger setzte seinen Kredit beim Massenpublikum
aufs Spiel, um mit seinem Konzept gegen den Trend der Zeit anzugehen. Der Wandel war konsequent in jeder Beziehung.
Im Oktober 1914 wurde Seeliger gemustert und meldete sich "kriegsfreiwillig", doch seine Einsätze
waren friedlicher, fast ziviler Natur: Marinekriegsberichterstatter der Vossischen Zeitung, Verwaltungsschreiber
auf Norderney, in der Truppenbetreuung, bei einer Schiffbesichtigungskommission, bei einer Werftdivision auf Sylt,
in einer Marine-Proviant-Organisation in Hamburg, beim Marine-Transportbüro in Wilhelmshaven - er tat durchwegs
unkriegerischen Dienst. Häufige Aufenthalte in Hafencafés führten zu Begegnungen wie der mit Ringelnatz, wobei der
noch unbekannte Seemannspoet neben einigen Flaschen Rum reichlich Zuspruch und schöpferische Zuversicht durch den
Erfolgreichen gewann. Solcher "Waffendienst" taugte nicht zum militärischen Avancement, und Seeliger blieb bis
zuletzt Unteroffizier. Er gewann aber Zeit zum Schreiben, und auch während der Kriegsjahre erschienen neue Bücher
mit sehr unterschiedlichen doch stets originellen Plots. Einen Auftrag des Ullstein-Verlags für einen Kriegsroman
(Der gelbe Seedieb) nutzte er, um einen "pazifisch und pazifistisch durchtarnten" Bestseller unters
schlachtenhungrige Leservolk zu schmuggeln, in einer Auflage von rund 300
000! In der
Kriminellen-Utopie
Das Paradies der Verbrecher (1914) empfahl er, alle Bösewichter unter wohlfahrtsstaatlichen
Lebensumständen in einer brasilianischen Urwald-Kolonie zu versammeln und sie so ihres Stehl-, Raub- und
Mordbedürfnisses zu entheben. Nebenbei erfand der allem Technischem, sofern es friedlichen Zwecken diente,
aufgeschlossene Tüftler das Stelzenboot - Vorfahre von Amphibienfahrzeugen. 1915 erschienen zwei Bände des
geplanten
Deutschen Dekamerone mit 40 Novellen um Meer und Macht. 1918 legte er den ersten der vorgesehenen
vier "chromosomatischen Barockromane" vor, den Schelmenroman
Die Abenteuer der vielgeliebten Falsette, dem
er 1920 mit
Junker Schlörks tolle Liebesfahrt ein maskulines Pendant folgen ließ.
Nach der Rückkehr ins Zivilleben machte Seeliger sich daran, sein seit langem fertiges Konzept der
"Hominidissimus-Experimente" zu verwirklichen. Er kaufte, um seine Papiermarkersparnisse vor dem Zerschmelzen
in der Inflation zu bewahren, das Sommerhaus
Avalun am Walchensee in Oberbayern und richtete eine
"welteidgenössische Enklave" ein mit gastfreiem Haus und einem ansehnlichen Kreis früherer und neuer Freunde
(Mauthner, Oppenheimer, Oswald Spengler, Konrad Heiden u.a.). In diesem "Vulkanium pneumatologischer Observanz"
gründete er zusammen mit dem Münchner Buchhändler Eser, dem Biologen und Lektor des Verlags für Kulturpolitik,
Dr. Curt Thesing, und den Inhabern des Münchner Buchgewerbehauses, Müller und Königer, den "Weltbücherverlag", um
die druckfertigen Texte des ersten Hominidissimus-Experimentes 1922 herauszubringen: Als Vorspiel
Die Zerstörung
der Liebe, worin das "Weltbordell Paris" durch Einleiten eines Aphrodisiakums in die städtischen Wasserleitungen
für immer befriedet wird; dann mit
Die Diva und der Diamant,
Handbuch des Schwindels und
Die
Entjungferung der Welt (1923) die Titel, die man eine Trilogie der Entschwindelung nennen könnte. Seeliger
hatte dieses Erste Hominidissimus-Experiment mit Sorgfalt und kühl kalkuliertem Risiko vorbereitet und inszeniert:
In das Schwindelklima von "Schlawittelsbach am Wendekreis des Löwen" bugsierte er sein "typographisches Erzkuriosum,
...wobei (ihn) oft genug ein keineswegs unangenehmes Gruseln überlief, als ob (ihm) Nachbar Dehmel als unsichtbarer
Hausgeist über die Schulter linste"
(Messias Humor). Nach Richard Dehmels Tod 1920 hatte Seeliger das
Handbuch des Schwindels allein fertig geschrieben, um damit "den bayerischen Löwen ganz gehörig am Schwanz
zu ziehen". In der Schlußszene von
Die Diva und der Diamant kündigte er in der Rolle des "Richtigen
Lieben Gottes" das
Handbuch höchstpersönlich an als ein großes Buch der Wahrheit; im Frühjahr 1922 erschien
es und löste den erhofften Wirbel aus. Wenige Monate danach kam in Wien im Gewand eines exotischen Abenteuer- und
Reisebuches der Weltfriedensroman
Die Entjungferung der Welt heraus, mit einem satirischen und stark
verfremdeten Zeitbild Münchens um 1922. Diese gallenbittere Attacke auf "Attilasämlinge" und "autoritätsbrünstige
Obertanen" jeder Couleur entlädt krachende Breitseiten voll Hohn auf den Urgrund alles Bösen in der Welt, den
Kaipapkö (leicht zu demaskierendes Kürzel!). Diese unheilige Dreiheit der Macht und des Schwindels, dieses welt-
und menschenschindende Monstrum residiert - grüß Gott, Jules Verne! - im Mittelpunkt der Erdkugel, unter unseren
Füßen, in der landläufigen Behausung des Teufels also.
Im
Handbuch des Schwindels erscheint dieses Widerwesen in zahllosen Varianten als Staat, Mammon, Amtskirche,
Großstadt, Militär, als Gewalt hinter vielen Larven, kurz: als Schwindel, als Sperre für Leben, Lust und Liebe,
als Widersacher von Wahrheit, Freiheit und richtigem Denken. Seeliger hatte das
Handbuch drucken lassen
"zum Zwecke der Beschlagnahme, denn nur diese ent- und gesetzlich geschützte Spitzbubelei (...) hat mir die
Möglichkeit eröffnet, die Klaus-, Kau- und Denkwerkzeuge der Beschlagnahmer so genau zu untersuchen, wie das von
dem richtigen lieben Gott von Ewigkeit her zu erwarten stand" (
Gott und die Schweinehundel. Erste Pflugschrift,
Hamburg 1925). Dies nun ist der Kern des Ersten Hominidissimus-Experimentes:
1. Seeliger will erfahren, wie schnell und aus welch fadenscheinigen Motiven im neudemokratischen
bayerischen Obrigkeitsstaat ein Mensch ins Irrenhaus geraten kann.
2. Er will erfahren und zeigen, wie die in Horden organisierten Hominiden einem Hominidissimus,
also einem Vertreter der wahren Menschheit, begegnen, nämlich mit den Bütteln behördlicher Macht.
3. Er will einen Gerichtssaal gewinnen als Forum für seinen Appell ans Weltgewissen und zur
Verkündigung seiner welteidgenössischen Friedensidee.
4. Er will durch das leibhaftige Beispiel beweisen, daß Zivilcourage und richtiges Denken
auch der massiven Staatsgewalt erfolgreich entgegentreten und sie mit den Mitteln des entwaffnenden, weil
waffenlosen Humors ad absurdum führen zu können.
5. Er will zu der urhumoristischen Erkenntnis hinführen, daß, wenn sich möglichst viele
Menschen für unzurechnungsfähig erklären ließen, sie durch ihre Steuerunfähigkeit dem Staat auf legale Weise die
finanzielle Grundlage zur Massenherstellung von Waffen und Kriegsgerät entzögen: status ad absurdum!
6. Er will den vor Strafverfolgung schützenden Paragraphen 51 zugesprochen bekommen und dadurch
Narrenfreiheit gewinnen im Bewußtsein, daß die wirklichen Narren die anderen sind. (Seeliger weigerte sich
bis an sein Lebensende, ordnungsgemäß Steuern zu bezahlen! Der Staat hielt sich an seinen Erben "schadlos".)
Und zu guter Letzt sollte der Aufenthalt in einer Heil- und Pflegeanstalt dem Erfahrungshungrigen
unverfälschte Milieustudien ermöglichen.
Der Staatsanwalt reagierte wie erhofft: er ordnete für den 24. Juni 1922 eine Razzia im Gebäude
des Weltbücherverlages an und beschlagnahmte 459 Exemplare des
Handbuchs; im Juli und August erfolgten
Aktionen in Münchner Buchhandlungen. Am 9. November wurde Seeliger vom Untersuchungsrichter während der Vernehmung
erstmals als unzurechnungsfähig bezeichnet. Am 11. Dezember verfügte die Erste Strafkammer München I Seeligers
Einweisung für sechs Wochen in die Heil- und Pflegeanstalt Haar. Seeliger verbrachte die Zeit von Mitte Januar bis
Ende Februar 1923 in der Anstalt und verhielt sich so irrenhausgemäß, daß der Direktor ihn bat, die Anstalt zu
verlassen, denn er sei zu verrückt für dieses Haus. Der Patient aber protokollierte alle Vorgänge und Gespräche
mit. Das Gutachten der Ärzte lautete auf Hypomanie, Seeliger wurde freigesetzt und ging auf Reisen. Am 15. April
1924 eröffnete das Landgericht München I das Objektive Verfahren gegen das
Handbuch des Schwindels, und
erst nach massiver polemischer Intervention des "Unmündigen" wurde er als Einzugsinteressent anerkannt. Der Versuch
des Staatsanwaltes, Seeliger unter Vormundschaft stellen zu lassen, scheiterte an dessen wortgewaltigem Absagebrief,
worauf die Justiz resignierte.
Das Nachspiel war eine Groteske: Zahlungsaufforderung über 4.55 RM Gerichtsgebühren,
barocksprachiges Ablehnungsschreiben, Auftritt des Gerichtsvollziehers wegen 12.17 RM mit Pfändungsversuch,
Vernichtung der Pfändungsmarke durch Seeliger, Drohung mit Strafverfolgung wegen Beschädigung von Staatseigentum
und - als Knalleffekt: Seeligers triumphierender Hinweis auf seine Strafunmündigkeit wegen des § 51.
Das Hominidissimus-Experiment Nr. 1 war geglückt, Staat und Justiz strichen vor Witz und Zivilcourage eines
Individuums die Segel. Wohl wurden Buch und Herstellungsmaterialien unbrauchbar gemacht, doch besagte dies nichts
angesichts folgender Prozeßergebnisse:
1. Die Beklagten wurden außer Verfolgung gesetzt.
2. Die Kosten des Verfahrens trug die Staatskasse.
3. der dreijährige Prozeß offenbarte in all seinen Phasen die Humorlosigkeit der Bürokratie
und die Hilflosigkeit staatlichen Machtdünkels gegenüber Witz und Mut eines autonom denkenden Menschen.
4. Das Überleben des Buches zeugt von der Lebensfähigkeit des "richtigen Denkens" und der
"ewigen Wahrheit des richtigen lieben Gottes".
5. Der Seeliger-Prozeß wurde von der gesamten deutschen Tagespresse aufgegriffen, zumal Seeliger
als Zeugen folgende Persönlichkeiten angefordert hatte (wenn auch ohne Erfolg): den bayerischen Ministerpräsidenten
Dr. Held, den Kardinalerzbischof Dr. Faulhaber, den Vorsitzenden der Evangelischen Landessynode Bayerns, den
Münchner Oberrabbiner, den Landtagsvizepräsidenten Auer und den Schriftsteller Adolf Hitler. Diese Zeugen sollten
sich zu ihren Vorstellungen von den Begriffen Gott, Menschheit, Staat und Volk äußern, was deutlich macht, daß
Seeliger die Selbstentlarvung der "Horden" im Gerichtssaal beabsichtigte (vgl.
Gott und die Schweinehunde, S.11).
6. Das Buch hat sowohl die Beschlagnahmer als auch die damals geltenden Paragraphen überlebt,
die zu seiner Indizierung führten: Vergehen gegen das Republikschutzgesetz, Gotteslästerung und Religionsbeschimpfung.
In Seeligers Verständnis ist Gott nicht ein vom Menschen geschaffenes Bild (Götze), sondern die Verwirklichung der
freien Menschheit. Insofern ist jeder, der dieses Stadium erreicht hat, in dem er unabhängig, also richtig zu denken
vermag, gottebenbildlich. Seeliger folgt hier Fritz Mauthners Vorstellung, wonach der Ich-Begriff = Gott-Begriff ist.
Was der Staatsanwalt ihm als Gotteslästerung anlasten wollte, zielt eindeutig nicht auf Gott, sondern auf dessen
Kirchensteuerleute und auf gewisse "relügiös verlarvte Wissengeschäftler", die sich das Recht anmaßten, das Bild
des Ewigen Vaters nach ihren selbstherrlichen Maßstäben zurechtzustutzen und ihm dann zu eigenem Nutz und Frommen
das genehmste Gruppensignum aufzuprägen. Seeliger verspottet nicht Gott, sondern diesen von Menschen begangenen
Etikettenschwindel mit Gottbildnissen, mögen sie nun Jahwe heißen oder Allah, Zeus, Wotan oder Manitou, oder auch
wie der von der Amtskirche vereinnahmte und den Theologistikern anheimgebende Christengott. Aggressiv wird Seeliger
ja auch nur dort, wo im Namen eines dieser Götterbilder eine "Horde" versucht, mit Überredung, Verlockung, List oder
Gewalt Proselyten unter Andershordigen oder "Nichthordioten" zu machen. Seeligers Gott ist ein Ewiger Vater, der
keinem von denen gehört, die sich Uniformen und Hordenzeichen zulegen, der aber all denen zugehört, die sich als
einfache, ehrliche, richtigdenkende Menschen bemühen, auf dem Wege vom Hominiden zum Hominidissimus ein Stück
voranzukommen. Die Hominidissimus-Experimente sollten beweisen, daß der richtig denkene Mensch, der über das
Stadium des Hominiden hinausgewachsene Hominidissimus, keine Horden braucht, weder Staat noch Partei, weder Kirche
noch Rasse; daß nur die "Noch-nicht-Menschen" die Hordenbildung benötigen und Macht und Machtmittel anwenden
müssen, um ein Zusammenleben zu ermöglichen. Der Hominidissimus ist, so Seeliger, die höchste Stufe des Menschseins,
er ist die wahre Mensch-heit, und in ihrer Verwirklichung sieht er die vornehmste Bestimmung des Menschen, nachdem
die un-menschlichen Fehlentwicklungsstufen Unter- bzw. Über-Mensch überwunden sind. Mit ihrer Verwirklichung ist
die Identifizierung der freien, vollkommenen Menschheit mit Gott erreicht. Die Vision vom Eingehen des Menschen in
Gott und Gottes in den Menschen, die Vergöttlichung des Menschen und die Vermenschlichung Gottes
(s.
Jesus) - diese erzchristliche Vorstellung ist Seeligers ganze Blasphemie,
für die er, wie er es vorausberechnet hatte, vom Staatsbüttel vor obrikeitsstaatliche Gerichtsschranken gezerrt
wurde. Wenn Seeligers Silbenvulkan an der empfindlichsten Stelle eruptierte, so lag es nicht an einer
gotteslästerlichen Absicht, sondern allein an der Humorlosigkeit, Dummheit und Denkfaulheit der selbstgefälligen
Staatsrechtstreter von 1922 und an der heillosen Angst theokratolischer Würdefetischisten vor einem, der an den
zweifelhaften Grundfesten ihrer Kirchenamtsstühlchen und Seelenhütlerpöstchen zu rütteln wagte.
Durch das gesamte Werk Seeligers zieht sich die Forderung nach dem "richtigen Denken". Wieviel schlitzohrige
Clownerie sich hinter diesem Allerhöchstanspruch auch verbergen mag, an einigen Grundbedingungen hält er unverrückbar
fest:
1. Richtig denken heißt: die Wahrheit sprechen, die Dinge richtig bezeichnen, nicht zweideutig,
verschleiernd oder falsch benennen, die Wörter beim Wort nehmen. (Man wird an Arno Schmidts Etym-Theorie erinnert.)
"Sie (die Wahrheit) ist das richtige, widerspruchslose, allmächtige Denken" (
Die Entjungferung der Welt, S. 53).
2. Richtig denken heißt: miteinander denken, nicht gegeneinander. "Was könnten da anderthalb
Milliarden" Menschen vollbringen, wenn sie sich endlich als einige, ewige Menschheit erkennen wollten!"
Die Entjungferung der Welt, S. 224).
. Konträre Positionen sieht Seeliger nicht als "Anti", sondern
nur als "Nicht-". So bezeichnet er sich selbst in einem Text, der im Zweiten Hominidissimus-Experiment von 1933
die braunen Horden anpeilt, als "nichtsozialistischen, nichtkommunistischen, nichtkatholischen, nichtprotestantischen,
nichtjüdischen und nichtantisemitischen Indogermanen"
(Messias Humor).
3. Richtig denken heißt: Mut und Zivilcourage zeigen. "Wer Angst hat, denkt falsch"
(Messias Humor).
4. Richtig denken heißt: die Sprache unabhängig und kreativ gebrauchen, Wörter und Sätze und
damit Gedanken selber schaffen, statt in Fertigformeln zu sprechen. "Wenn ich Sätze brauche, so pflege ich mir
diese Gebrauchsgegenstände selbst anzufertigen." (
Gott und die Schweinehundel, S. 8). - "Wer in Worten und
Sätzen denkt, die andere ihm vorgegeben haben, denkt falsch."
5. Richtig denken heißt: sich selbst beherrschen und dadurch Fremdbeherrschung verhindern.
"Wenn jeder sich selbst beherrscht, was braucht es da einen Herrscher?" (
Die Diva und der Diamant, S. 216).
6. Richtig denken heißt: frei und vernünftig denken. "Alle Überzeugungen sind Irrtümer. Die
Freiheit des menschlichen Denkens besteht darin, sich stets der besseren Einsicht zuzuwenden" (
Die Diva und der
Diamant S. 219).
7. Richtig denken heißt schließlich: lustvoll denken. "Das Denken ist die schwerste, aber auch
die lustigste aller menschlichen Arbeiten. Das Denken ist die göttliche Arbeit der Menschheit" (
Die Diva und der
Diamant, S. 237).
Seeligers Augenmerk richtete sich in den nächsten Jahren auf die braune Hordenbewegung. Es
folgten ruhigere Jahre, in denen er mit Freunden wie Franz Oppenheimer, Fritz Brehmer, Ludwig Feuchtwanger (Bruder
von Lion Feuchtwanger) und Oskar Fiedler ausgiebig Umgang pflegte und viel reiste. Verfilmungen des
Peter Voss
(mit Harry Liedtke) nahmen ihn in Anspruch, eine Amerika-Reise brachte den Stoff für den Roman
Triumph über das Tier
(unveröffentlicht), eine Skandinavienreise schloß sich 1932 an, und dann war die Zeit für das
Zweite Hominidissimus-Experiment reif. Längst hatte er erkannt, daß die braune Flut nicht von der Staatsmacht
fernzuhalten war, und richtete seine Opposition darauf ein. Dem Polizeifunktionär und späteren Widerstandskämpfer
im Gestapogewand Oskar Fiedler diktierte er eine beißend-polemische Parodie auf das Horst-Wessel-Lied
(Das Geheul
nach dem Heil), und der Freund sorgte für ihre 10
000fache Verbreitung in Berlin. Nach der
Machtergreifung der Nationalsozialisten ("Tratschional-Kotzialisten") war er bald im Visier örtlicher Parteibonzen
in Kochel und Bad Tölz, denn er gewährte Verfolgten zeitweise Asyl, bis sie emigrieren konnten (Familie Feuchtwanger),
und unterstützte bedrohte Bibelforscher aus der Nachbarschaft finanziell und verhalf ihnen zur Flucht über die Alpen.
Das Zweite Homidinissimus-Experiment begann mit einer Seeligerschen Provokation. Als Flaggenschmuck
zum 1. Mai 1933 hängte er ein winziges Fähnchen aus braunem Packpapier ans Haustor mit einer Spottinschrift auf
die örtlichen NS-Größen in Walchensee und Kochel. Nach einigen Possen-Szenen wurde gegen Seeliger Schutzhaftbefehl
erlassen, und wieder spielte er im Amtsgericht Bad Tölz eine mehrwöchige dreiste Häftlingsschweikiade vor und
protokollierte auf der Schreibmaschine alle Vorgänge mit. Die Farce endete mit Seeligers Entlassung, er verkaufte
sein Haus
Avalun und zog sich vor der drohenden Verhaftung durch die Gestapo für kurze Zeit in die Schweiz
zurück. Neue Begegnungen in Zürich brachten ihm die Bekanntschaft mit Roda-Roda, dem Verleger Goldmann und mit dem
Pan-Europäer Graf Coudenhove-Kalerghi. Oskar Fiedler bewog ihn schließlich zur Rückkehr nach Hamburg und verschaffte
ihm eine zurückgezogene Existenz mitten in der Hansestadt.
Als Mitglied des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller wurde Seeliger zunächst in die
Reichsschrifttumskammer zwangsintegriert. Dann entdeckten die völkischen Stammbaumschnüffler die nichtarische
Herkunft seiner Frau und schlossen ihn am 9. Mai 1936 aus der RSK aus. Die meisten seiner Bücher wurden indiziert,
fortan durften nur die politisch unverfänglichen Unterhaltungsromane erscheinen, Neues von Seeliger wurde nicht
gedruckt. Ab 1939 betrieb Seeliger die Aufhebung des Publikationsverbots, aber erst, als man den Unterhaltungswert
des
Peter Voss wiederentdeckte und die dritte Neuverfilmung plante (mit Viktor de Kowa), nahm man ihn wieder
auf. Der Film wurde 1945 gedreht, Seeligers Bücher blieben verfemt.
1940 siedelte er wegen der Bombenangriffe von Hamburg nach Cham/Opf. über und lebte unter
eingeschränkten Verhältnissen bei Verwandten. Gute Freunde versorgten ihn mit dem Lebensnotwendigen. Hier erfuhr
er vom Gastod seiner Schwägerin in Auschwitz und von der Einlieferung seines Sohnes ins KZ Schelditz/Rositz in
Thüringen. Er selbst blieb vor Belästigungen bewahrt dank dem Einfluß seiner Chamer Freunde und auch durch den
"Persilschein" aus dem Jahre 1922.
Nach Kriegsende versuchte Seeliger, literarisch wieder an der Zeit vor 1933 anzuknüpfen, aber die zwölfjährige
Unterbrechung hatte dem 68jährigen das Publikum geraubt. Andererseits hatte die Zeit des erzwungenen Schweigens
ihm die Muße verschafft, sich mit neuen Gegenständen zu beschäftigen. Er lebte sich immer mehr in die Geisteswelt
von Renaissance, Humanismus und Reformation ein und empfand die großen Gestalten dieser Epoche, vor allem Erasmus
von Rotterdam, zunehmend als Symbolfiguren dessen, was er selbst erstrebte: Welteidgenossenschaft, Weltbürgertum,
Überwindung von Spaltungen und Grenzen, Einigung der Menschheit in einer weltumspannenden Friedensbewegung.
Erasmus von Rotterdam wurde zur Zentralgestalt seines Denkens und Schreibens, ihn wählte auch er zur Hauptfigur
seines letzten Romans
Schuß ins Schisma, Roman der Weltentwaffnung (auch:
Sophias Fehltritt mit Erasmus
oder:
Jedem Wahne seine Fahne). Das über 800 Manuskriptseiten umfassende Werk ist unveröffentlicht, ebenso
die nur fragmentarisch überlieferte Autobiographie
Messias Humor, Roman der Machtmagie oder die Entlarvung
der Horden (auch:
Die Welteidgenossenschaft). Ein dritter Roman
Lamm wird Trumpf, sieben Metatrickfilme
über die gekommenen wie über die kommenden Dinge (auch:
Karins sieben Kavaliere, oder
Nordatlantisches
Kaleidoskop) ist verschollen. Das
Deutsche Dekamerone wurde fertiggestellt und sollte komplett
herausgegeben werden.
In der neuentstandenen Demokratie der Bundesrepublik setzte der unermüdliche Zettler seine
poetisch-kritischen Waffengänge gegen die wiedergekehrte Reaktion in der Adenauerzeit der fünfziger Jahre fort.
Das Dritte Hominidissimus-Experiment, 1931 in New York anläßlich der Gründung eines "Messias-Fonds" für das Jahr
1957 vorausgesagt, sollte den Boden bereiten für einen "humorigen Weltskandal", an dessen Ende Seeligers
Wiedereintritt in das literarische Geschehen der Gegenwart stehen sollte. Die barocken Schelmenromane
Vielgeliebte Falsette und
Junker Schlörk wurden neu aufgelegt und prompt von behördlichen
Sittenwächtern und Moralhütlern aus Aschaffenburg und Düsseldorf indiziert bzw. beschlagnahmt. Am 10. April 1953
ließ das Landgericht Aschaffenburg ("Arsch-Affenburg") das Verlagshaus
Main-Echo, das die beiden Romane
in Folgen abgedruckt hatte, richterlich durchsuchen und Exemplare der beiden Bücher beschlagnahmen; ein Verfahren
wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften sollte folgen. Der Dörner-Verlag Düsseldorf verwahrte sich in einem
vielseitigen detaillierten Gutachten gegen den Vorwurf, der
Junker Schlörk sei eine jugendgefährdende und
unzüchtige Schrift, Seeliger griff mit polemischen Briefen ein und gestaltete den Vorgang zu dem, was er hatte
haben wollen: zur Demaskierung der staatlichen Zensurbehörden als spießige, kunstfremde und humorwidrige Institution
ohne Sachverstand. Das Jahr 1957, von Seeliger als Startjahr für die "
Paradies-Aktiengesellschaft zur
Entfesselung eines humoristischen Weltskandals" ausersehen, sah den Achtzigjährigen unermüdlich am Planen und
Projektieren für die Herausgabe seiner Alterswerke und einer Gesamtausgabe. Die Regale voller Manuskripte und den
Kopf voller Ideen - so apostrophierte ihn die Wochenzeitung
Der Schlesier noch im November 1958 als "Junger
Mann von 81 Jahren". Der "humorige Weltskandal" sollte ihm, mit selbstironischem Augenzwinkern vermeldet, die
Nobelpreise für Literatur und für Frieden auf einmal eintragen. ("Wenn ich erst die beiden Nobel-Preise habe,
dann können mich die glorreichen Horden alle mal..."). Die Folgen eines unglücklichen Sturzes beendeten am 8. Juni
1959 sein Leben und Planen. Der humorige Weltskandal fand nicht statt, und so bleibt nur die Erinnerung an die drei
Hominidissimus-Experimente, und vor allem an die Provinz-Justizkomödie beim Erscheinen seines
Handbuchs des Schwindels
im Jahre 1922.
Das
Handbuch des Schwindels ist ein Lexikon von Adam bis Zwist und nimmt beinahe alles auf die satirische
Schippe, was in irgendeiner Form der Gewaltentfaltung diente oder dient. Es ist ein Buch zum Schmunzeln und Ärgern,
zum Kopfschütteln und Anstoßnehmen, aber auch zum Entdecken und Nachdenken, wobei man immer mit einem Fuß im
Jahre 1922 stehenbleiben muß, will man ihm gerecht werden. Es hat Stärken und Schwächen, es verbindet gedankliche
Kühnheit mit unkonventionellen Einsichten, und es enthält Verirrungen und Fehlgriffe im Urteil über Einrichtungen
(Tierschutzverein, Vivisektion) und Personen (Karl Kraus, Siegfried Jacobson; Zigeuner). Das ist literarisches
Kollegengezänk, Tagespolemik in aufgeregter Zeit. Nicht die einzelnen Vokabeln oder Artikel, für sich genommen,
sind es, worauf es ankommt; das Buch als Ganzes ist Satire, und als solche ist es durchsetzt mit Wahrheiten, die
weh tun, aber auch mit Verzerrungen, die wohl tun, wenn sie erhellend wirken.
Seeliger kuscht vor nichts und niemand, nicht vor Staat, Kirche, Militär, Macht oder Geld. Er
untersucht sie mit der Sonde des Intellekts, seziert sie mit sicherem Schnitt, führt die Bestandteile auf ihren
wahren Ursprung zurück, kommentiert sie mit ätzender Schärfe, wann immer er entdeckt, daß ein Schwindel im Spiel
war oder ist. Es ist Legion, was er an Schwindeleien in der Welt und ihrer Geschichte entdeckt und entlarvt. Altar
und Anarchismus, Antisemit und Apostel, Armee und Behörde, Bischof, Börse und Bismarck, Cölibat und Cicero, Fahne
und Führer, Hakenkreuz und Hindenburg, Götter, Lehrer und Gymnasium, Heiliger Geist und Regierung, Latein, Tyrann
und Standesamt - weit über tausend Vokabeln trachtet er rüttelnd und schüttelnd auf den Urgrund zu kommen. Er
hobelt mit grimmiger Freude, daß die Letternspäne fliegen, er richtet den Zeigefinger nicht moralisierend, sondern
wegweisend dorthin, wo das Übel sitzt, und dreht mit der anderen Hand eine Nase dazu. Da wird die Staatsgewalt flugs
zur Staatsvergewalt, es bleibt nicht beim Wortspiel, sondern es wird gedreht und gewendet, zerlegt und neu
zusammengefügt. Seeliger preßt dem Wort zahllose Kreuz- und Querverbindungen ab, bis aus dem Papst urplötzlich
der römische Kalif wird. Welcher historisch Bewanderte kann, wenn er nachdenkt - und das soll er ja -, dem
katholischen Oberhaupt diese Funktion ernsthaft absprechen?
Die Sprache ist dem ehemaligen Lehrer unermeßliches Tummelfeld. Mit Lust und Schadenfreude
kobolzt er im deutschen Wortschatz herum, luchst jedem unschuldigen Substantiv eine vorder- wie hinterlistige
Zweideutungsnuance ab und kopuliert es im Handumdrehen mit seinem Gegenteil, solcherart ein überraschend neues
Wortungetüm zeugend, das dem Bereitwilligen alle Arten des Lachens entlockt, vom leisen Schmunzeln bis zum
homerischen Urgelächter. Er verquirlt Silben und Wortstämme, garniert sie mit scheinbar deplazierten Vorsilben und
Endungen, nimmt den Klang von Fremdwörten wörtlich zu deren spitzfindiger Exegese her und macht aus einem Byzantiner
einen Aarschlecker, mit dem Querverweis: s. Adler. Er versauerteigt die deutsche Sprache mit so diebischer Lust
am Verqueren, daß den Hütern der Sprachrichtigkeit die Perücken ergrauen. Dabei hält er die Grenze zwischen
Ernsthaftigkeit und ironischer Brechung so verschwommen, daß der Leser oft nur mühsam den ausgelegten Leimruten
entgeht. Manches kommt mit hauruckhafter Seriosität daher, während der Autor im Hintergrund genüßlich und
augenzwinkernd auf die Reaktionen zu lauern scheint. Und auf der letzten Seite entläßt er den Leser mit einem
letzten verunsichernden Verleitspruch:
"Wer dieses Buch ernst nimmt,
der will, daß ich mich über ihn lustig mache."
Ein Großteil der Seeligerschen Ironie funktioniert metaphorisch, angefangen vom "Zweihänder" oder "Stoffwechsler"
für Mensch über den "Pflastertrampler" (Großstädter) und den "Denkfurchenzieher" (Lehrer) bis zur "Volksmolkerei"
(Regierung). Das Feuilleton wird zum "schwarzweißkünstlerischen Blätterteig" und der Sport zum "schweißtreibenden
Arbeitsersatz".
Eine ander Funktionsweise lebt von der unmittelbaren Konfrontation mit Antinomien. "Laster" wird
mit "Tugend" erklärt und der offenbare Widerspruch so aufgehoben: "Der zum Lasttragen Taugliche wird vom Belaster
für tugendhaft gehalten. Was beim Sklaven als L. gilt, wird beim Herrn zur Tugend und umgekehrt"; quod erat
demonstrandum, und die Logik feiert fröhliche Urständ. Desgleichen wird der Optimist zum Pessimisten vice versa,
und jede Opposition ist zunächst einmal Position.
Es versteht sich, daß Selbstironie und Selbstpersiflage zum Humorkonzept Seeligers gehören.
Nicht nur, daß er sich selbst in einem eigenen Artikel liebevoll durch den Kakao zieht - wohl ein Unikum in der
Lexikographie -, er zitiert in pseudowissenschaftlicher Manier sich und seine Bücher in absonderlichen Zusammenhängen
(s.
Zeitung,
Unsterblichkeit) - Ausdruck
des Lustprinzips Humor; mit Werbung in eigener Sache hat das nichts zu tun.
Mit Vorliebe bedient sich Seeliger der Hyperbolik. Seine absoluten Superlative häufen sich so,
daß sie jedes aufkeimende Pathos ersticken oder in den infantilen Übertreibungsgestus eines Märchenonkels
überführen. So gerät fast jede seriöse Aussage ins Zwielicht des Unernstes. Die Wichtigkeitsgrade überirdischer
(göttlich = höchst übermenschlich) wie irdischer Phänomene (Seeliger = der allergewöhnlichste Mensch) relativieren
sich damit von selbst und begegnen sich friedlich im irdischen Lustgarten des messianischen Humors.
Häufig stellt Seeliger assoziative Verknüpfungen durch simple Querverweise im seriösen
Lexikonstil her. Dadurch bringt er konträre Begriffe in scheinbar enge gehaltliche Verbindung zueinander und
erstellt, durch betontes Aussparen erhellend, ganze Komplexe polemischer Anspielungen. Ein Beispiel:
"
Verhetzung,... (s. Herrschaft, Hetzer, Strafgesetzbuch, Steckbrief, Politik, Partei, Semit, Antisemit,
Ritualmord, Dietrich Eckard)".
Spielerischen Charakter hat Seeligers ironische Hilfestellung "zur Erleichterung des
Richtigdenkens", wonach der Leser für die Vorsilbe "un-" nur die Silbe "Staats-" zu setzen habe, um
richtiggedachte Begriffe zu erhalten. Auf diese Weise entstehen Kombinationen wie Unrecht = Staatsrecht, Unrat =
Staatsrat, Unwesen = Staatswesen, unzweckmäßig = staatszweckmäßig, unmäßig = staatsmäßig - eine Sprachspielerei,
deren Witz darin besteht, daß sie ad libitum getrieben werden und bei reicher Phantasie zu perfiden Begriffsbildungen
führen kann, wie etwa Unmensch = Staatsmann.
Seeligers Grundpositionen werden erst nach eingehender Lektüre des
Handbuchs deutlich und erschließen sich
ganz nur bei Kenntnis der sogenannten "Weltromane". Auf einige zentrale Themen sei mit wenigen Worten hingewiesen:
Freie Menschheit auf freiem Boden, freies Wort in einer Gesellschaft freier Individuen, ungesperrter, d.i.
schwindelfreier Umgang miteinander, eine Welt ohne Grenzen und Sperren, Friede und Gewaltfreiheit, Humor und
richtiges Denken als Blutströme des menschheitlichen Organismus - Dutzende kleiner und größerer Steinchen ließen
sich herausklauben aus dem Mosaik seiner wohlkomponierten Utopie, deren Elemente einer jeden demokratischen Staats-
und Gesellschaftsordnung zugrunde liegen müssen, sollen sie wenigstens in der Theorie glaubwürdig sein. Seeligers
Modell einer Mensch-heit sieht als Katalysator ein Lustprinzip vor, das imstande sein könnte, Utopien in
Wirklichkeit überzuführen, nämlich den "Messias Humor".
Das
Handbuch des Schwindels, dies sei nochmals betont, ist und bleibt eine Kuriosität aus dem Jahre 1922.
Es will weder ein Weltverbesserungsprogramm liefern noch ein Modell für die Erlösung der leidenden Menschheit sein.
Das wäre Ideologie und Seeliger höchst zuwider. Das
Handbuch des Schwindels als Teil des Ersten
Hominidissimus-Experimentes ist einer der vielen Versuche des Rathauer Don Quijote im verbalen Kampf gegen
hochmögende Maulkorbflechterei und Denksperrung, die Welt mit Geist und Humor ein wenig bewohnbarer machen zu
helfen. Deshalb muß das Buch als Ganzes genommen werden, mit Einband, Vorspann und Titel, mit den schlitzohrigen
Beitritts- und Überweisungsformularen im Anzeigenteil und mitsamt dem verfremdeten Jesus-Logisma "Wer nicht mit mir
ist, der ist wider sich", denn gerade in solchen Details hat der "Alte Hexenmeister und richtige Liebe Gott"
Seeliger deutliche Hinweise zum rechten Verständnis seines Buches untergebracht. Wer dieses letztlich ernster nimmt,
als sein Autor es sich wünscht - wie die bayerische Justiz von 1922 -, dem fehlt wahrlich "die Fähigkeit, zu
lachen, zu machen und die Lebenslust zu erhöhen" (s.
Humor). Den aber, so scheint
mir, hat gerade unsere Zeit dringend nötig, den behaglichen wie den bitteren, den feinen wie den drastischen, und
nicht zuletzt eine kosmische Portion Galgenhumor.